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Beitrag vom 09.07.2003
Ich bin Michel und bitte um eine zweite Chance!
Jana Scheerer
Wer moralisiert, läuft Gefahr, selbst moralisch beurteilt zu werden. Das musste Michel Friedman jetzt schmerzlich erleben. Da hilft nur noch eins: schnell alles zugeben.
Spätestens seit Bill Clinton sind Geständnisse schwer in Mode. Jeder gibt irgend etwas zu, und wenn möglich, im Fernsehen. Das gilt für Prominente genauso wie für Normalsterbliche. Zu den besten Zeiten der Daily Talkshow konnte die geneigte ZuschauerIn von 10 Uhr morgens bis in die frühen Abendstunden auf mehreren Kanälen Geständnisse sehen - von "Heute sag ich´s dir: Du bist nicht der Vater unseres Kindes" bis "Ich lebe von Sozialhilfe und bin stolz darauf."
Was diese Sendungen zusammenhält, ist die Moral. Das Publikum, die Gäste und die ModeratorIn versammeln sich täglich, um festzulegen, was moralisch erträglich ist und was nicht. Sozialhilfe empfangen wegen fehlender Lust auf Arbeit: Geht nicht. Sozialhilfe empfangen mit fünf Kindern: Schon eher. Fünf Kinder haben und trotzdem arbeiten gehen: Moralisch einwandfrei.
Durch das soziale Netz der Daily Talkshowmoral fällt kaum jemand. Denn jedem moralisch Gestrauchelten winkt die Chance der Wiedergeburt: Gib alles zu, gelobe Besserung - und du gehörst wieder dazu. Nach der tränenreichen Entschuldigung vor laufenden Kameras ist das nächste Kind bestimmt vom Ehemann, und einen Blumenstrauß gibt es noch obendrauf.
Der Medienwissenschaftler Lothar Mikos nennt das "Moralkommunikation". In der Moralkommunikation werden Vorwürfe artikuliert, von der Norm abweichendes Verhalten angeprangert und Handlungsalternativen aufgezeigt. Entscheidend dabei ist, dass moralische Angriffe sich immer auf die gesamte Integrität einer Person richten und dabei generalisierende und abstrahierende Aussagen getroffen werden. Den Satz "Du hast deinem Mann zwar ein Kind untergeschoben, aber trotzdem bist du sicher eine gute Mutter", wird es also selten als Quintessenz in einer Talkshow zu hören geben.
Auch Friedman betrieb in seiner Sendung Moralkommunikation. Das ist es, wofür er geliebt und gehasst wurde. Da konnte sich niemand hinter seiner Parteilinie verstecken, um als Person außen vor zu bleiben. Natürlich schnitt Friedman keine persönlichen Themen an, seine Sendung war eine politische Talkshow. Aber das Politische wurde auf persönlicher Ebene abgehandelt. Wer zu Friedman ging, wurde auf sein moralisches Gewicht geprüft.
Jetzt steht Friedman selbst auf der Waage, und es wird aufs Gramm genau gemessen. Denn in der moralischen Kommunikation liegt immer das Risiko, selbst moralisch beurteilt zu werden. Das ist es, was Friedman jetzt passiert. Da wird personalisiert und generalisiert, und dass Koks nicht weit von Geld entfernt ist, hilft bei der Konstruktion eines moralisch fragwürdigen Friedman. Der aber reagiert ganz talkshowgerecht: Er gibt alles zu und gelobt Besserung. Der Wiedergeburt steht also nichts im Wege.
Fragt sich, was Michel Friedman sagen wird, wenn er sich demnächst wieder bei Bärbel Schäfer durch die Tür traut. Wie wäre es mit "Hallo, ich bin Michel, und ich bitte um eine zweite Chance." Applaus.